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23.04.2012 -

"Gamification" - Wenn Spielfreude ernst gemeint ist Serious Games als zusätzlicher Markt für Spieleentwickler

Einleitung

Am Anfang war das Spiel

Am Anfang war das Spiel: Nachlaufen, Mensch-ärgere-dich-nicht, Skat. Und das Spiel war zweckfrei und hatte nur ein Ziel: den Spaß an der Freude. Seit geraumer Zeit schon haben Pädagogen und Strategen allerdings erkannt, dass der "Fun-Faktor" des Spielerischen viel zu wichtig ist, um ihn allein dem "Spaß an der Freude" zu überlassen. Folgerichtig brach die erste große Zeit der Lernspiele mit der massenhaften Nutzung von CD-ROMs an. Jetzt machen die Spieleentwickler offenbar ernst: mit den sogenannten Serious Games und der Gamification des öffentlichen Lebens. Eine Chance für die Gamesindustrie. Und eine Herausforderung für die Spielentwickler.

Serious Games heute: Aus- und Weiterbildung, Training

Gamification (oder auf Deutsch: Spielifizierung) bezeichnet die Nutzung von Spiele-Elementen in spielfremden Kontexten. Diese Elemente können sein: möglichst viele Punkte sammeln, in Ranglisten so weit wie möglich oben eingetragen werden oder virtuelle Auszeichnungen. Wie auch immer: Erfolgserlebnisse sollen die Motivation von Personen erhöhen, die wenig spannende oder herausfordernde Aufgaben bewältigen müssen.

Serious Games werden dabei schon seit Jahren zunehmen in der Bildung oder für Trainings eingesetzt: Wie wird man Dorfbürgermeister? Bundeskanzler? "Weitere Beispiele", so Torben Kohring, Projektleiter von Spieleratgeber-NRW: "Wie verhält man sich als Polizist während eines Einsatzes angemessen? Oder auch: Wie wäre man selbst mit dem Befehl umgegangen, als DDR-Grenzsoldat einen Republikflüchtling mit allem Mitteln an seiner Flucht zu hindern?"

Der erste, bekannteste und meist genutzte Bereich der Serious Games sind Simulationen im militärischen Bereich, konstatiert Thomas Dlugaiczyk, Geschäftsführer der Games Academy in Berlin. "Die gibt es schon seit ungefähr 15 Jahren, nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland. Die Bundeswehr nutzt Trainingssysteme, die auf der technischen Grundlage von Spielen funktionieren. Das heißt, dass Soldaten über grafische 3-D-Systeme in Situationen gebracht werden, in denen sie ihr militärisches Verhalten trainieren."

Aber auch Unternehmen setzen mehr und mehr Technologien und Spielprinzipien aus dem Bereich der Unterhaltungssoftware ein. Serious Games helfen Angestellten beispielsweise dabei, wichtige fachliche oder soziale Kompetenzen zu überprüfen und zu trainieren. "Ein Spiel zu diesem Zweck haben wir beispielsweise für die Metall- und Elektroindustrie entwickelt. Hier können Mitarbeiter feststellen, welche Arbeitsbereiche für sie in Frage kommen. Außerdem lässt sich über Spielsituationen ermitteln, ob Stellenbewerber die gewünschten fachlichen und sozialen Kompetenzen mitbringen.", sagt Arne Gels, Senior Consultant und Referent der Geschäftsführung der Firma Zone 2 Connect. Zone 2 Connect war einer der Gewinner des Wettbewerbs Kultur- und Kreativpiloten Deutschland im Jahr 2010 und betreibt auch einen Informations-Pool über Serious Games im Internet.

In vielen Serious Games für Unternehmen übernehmen Spieler eine Führungsrolle und üben realitätsnah, wichtige unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Gerade, wenn es um relevante Weichenstellungen geht, können durch eine solche Simulation Fehlentscheidungen und damit vor allem unnötige Folgekosten vermieden werden. Arne Gels: "Wir haben ein solches Projekt für die Lufthansa entwickelt: eine Simulation, mit deren Hilfe Lufthansa-Mitarbeiter sich einen Überblick darüber verschaffen sollen, wie schwierig es ist, eine Airline zu managen. Auf diesem Wege sollen sie eine Vorstellung davon bekommen, was in ihrem Unternehmen eigentlich alles abläuft und was man von ihnen erwartet."

Auch der öffentliche Sektor setzt zunehmend auf die Realitäts-Simulationen, weiß Malte Behrmann. Er ist der Generalsekretär der EGDF, der European Games Developer Federation. "Ein Produkt, das sehr erfolgreich am Markt funktioniert, ist Emergency. Dieses Spiel gibt es schon seit ca. 15 Jahren, lange bevor das Wort Serious Games überhaupt erfunden war. Es geht darum, Feuerwehreinsätze in Katastrophensituationen zu planen und zu üben. Dieses Spiel kaufen die freiwilligen Feuerwehrleute auf der ganzen Welt, in Japan, Frankreich und den USA."

Militär, Unternehmen, Öffentliche Hand also. Ein weiteres wichtiges Einsatzfeld der Serious Games ist heute der Medizinbereich. Torben Kohring: "Da geht es meist um Anwendungen für Patienten, die ihnen dabei helfen sollen, mit bestimmten Krankheitssymptomen umzugehen. Es gibt hier beispielsweise ein Spiel, das eine depressive Erkrankung als virtuelle Landschaft darstellt." Ein anderes Spiel ist für leukämiekranke Kinder gedacht, das diesen die Funktionsweise des Blutes verdeutlicht. Wobei, so Malte Behrmann: "Dieses Spiel hat die Google Foundation bezahlt. An diesem Beispiel wird ein ganz wichtiger Punkt deutlich: Gesundheitsspiele und die meisten anderen Serious Games sind in der Regel nicht aus sich heraus wirtschaftlich rentabel."

Motor: Spieltrieb und Ehrgeiz

Wobei die mangelnde Rentabilität keinesfalls an den genutzten didaktischen und methodischen Arbeitsweisen von Serious Games liegt. "Unter dem Strich machen sie sich bestimmte psychologische Muster zunutze", weiß Thorsten Unger. "Das ist der Spieltrieb, der in jedem von uns ruht. Das ist der Wettbewerbsgedanke, Ehrgeiz, auch sich selbst zu verwirklichen. Diese Dinge werden nutzbar gemacht, um andere Ziele zu erreichen, als es bei einem klassischen Spiel der Fall ist."

Apropos Ziele: Gute Spiele haben klare, erreichbare Ziele, so Thomas Dlugaiczyk. "Sie sorgen dafür, dass jeder, der spielt, die Möglichkeit hat, in diesem Spiel zu gewinnen, Erfolg zu haben." Der Clou sei: Um Erfolg zu haben, müssen die Mitspieler lernen. "Das ist eine notwendige Voraussetzung. Wenn wir beide jetzt mit einem Dritten Skat spielen wollen, dann muss sicher sein, dass alle drei Spieler Skat spielen können. Oder sie müssen es lernen."

Dabei spielen Menschen nicht nur gerne, sondern auch zunehmend elektronisch und keineswegs nur alleine, sondern oft gemeinsam. Dies sei eine zentrale Spiele-Bedingung, sagt Thomas Dlugaiczyk. "Serious Games bieten eine Art Rollenspiel mit elektronischen Hilfsmitteln." Und genau darum sei der Entwicklung der Gamification letztendlich eine natürliche Grenze gesetzt. "Ich denke, die Grenze ist da, wo der direkte soziale Kontakt völlig verdrängt wird oder in den Hintergrund gerät. Technik kann immer nur ein Tool sein und muss durch die Menschen beherrscht werden. Wir dürfen uns ihr nicht völlig ausliefern."

Serious Games morgen: Markt und Trend

Von Grenzen ist bei der Branchenentwicklung dabei noch wenig zu spüren. Insgesamt gewinnt der Markt der Computerspiele zunehmend an Bedeutung. Die Software-/Games-Industrie ist der bedeutendste Wachstumsmotor der Kultur- und Kreativwirtschaft: Die Zahl der Beschäftigten und der Unternehmen steigen seit 2003 konstant an. Laut Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums/der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft belief sich die Zahl der Unternehmen im Jahr 2010 auf rund 29.000. Dabei haben diese Spiele-Akteure einen Gesamtumsatz von sage und schreibe 26,41 Milliarden Euro erwirtschaftet. Maßgeblich daran beteiligt waren fast 253.000 Erwerbstätige. Eine wahrhaftige Erfolgsgeschichte.

Tendenz: mit Sicherheit weiter andauernd. Thomas Dlugaiczyk: "Wir leben ja in einer immer komplexer werdenden Welt, nicht nur beruflich, sondern auch persönlich und gesellschaftlich. Eine spielerische, eine systemische Herangehensweise mit Hilfe von Spielen hilft uns, gewisse Prozesse zu verstehen und bestimmte Zusammenhänge zu erkennen. Dazu kommt, dass wir dabei auf immer mehr und immer effektivere technische Hilfsmittel zur Kommunikation zurückgreifen können. Denken Sie nur an die sozialen Netzwerke".

Eine zunehmend wichtigere Rolle werden Serious Games nach Einschätzung von Malte Behrmann in Unternehmen für Schulungen und Trainings spielen, darüber hinaus im Bereich der Bildung an Hochschulen und auch Schulen. "Wenn die Schulbuchverordnungen fallen und die Schulen im Rahmen ihrer Lehrmittelfreiheit auch digitale Produkte kaufen dürfen, dann wird das in Deutschland der Durchbruch für Ausbildungssoftware sein."

Wie es nach diesem Durchbruch an unseren Schulen aussehen könnte, sei derzeit noch aus großer Entfernung in New York zu besichtigen, so Torben Kohring, Projektleiter von Spieleratgeber-NRW. "Hier gibt es eine Schule, die die didaktischen und methodischen Prinzipien von Computerspielen in allen schulischen Bereichen zunutze macht. Dahinter steht die Erfahrung der Schulleitung, dass Schüler wesentlich besser und motivierter lernen, wenn sie das spielerisch tun."

Über den Horizont von Schulung und Bildung hinaus wagt Thorsten Unger in einem Beitrag im WDR-Hörfunk einen weiten Blick in die Zukunft. "Auch wenn das teilweise noch Zukunftsmusik ist: Doch in fünf bis zehn Jahren wird ein großer Teil unseres Alltags als Real Life Game absolviert werden können. Alle möglichen Prozesse des täglichen Lebens, Kalorienverbrauch, gelaufene Meter, alles was man irgendwie messen kann, kann ich heranziehen und natürlich bewerten und bepunkten und dann daraus persönliche Erfolgserlebnisse erzielen. Die Zahnbürste, die per W-Lan die Zeit stoppt. Der Chip am Schuh, der Punkte sammelt, wenn man die Treppe nimmt statt den Fahrstuhl. Ökosternchen, wenn man das Auto stehen lässt."

Bedeutung für Kultur- und Kreativschaffende

Ein weites Betätigungsfeld also für die Spieleentwickler. Was nun deren erforderliche Qualifikationen angeht: Im Bereich Serious Games würden im technischen und im grafischen Bereich exakt die gleichen Fähigkeiten gesucht wie im Bereich der unterhaltenden Spieleentwicklung, weiß Thomas Dlugaiczyk bestens durch seine Tätigkeit als Geschäftsführer der Berliner Games Academy. "Gute Spieleentwickler sind Querdenker, ausgestattet mit der Fähigkeit, komplexe Systeme zu verstehen und diese weiter- und neu zu entwickeln. Mit einem Hintergrund aus der beruflichen Bildung, Fachhochschule, Universität. Besonders gute Kandidaten sind übrigens talentierte Quereinsteiger." Tatsächlich einzusteigen und Fuß zu fassen, sei dabei nicht immer so einfach, sagt Malte Behrmann. "Es ist in der Spieleindustrie nicht so wichtig, ob man einen Studienabschluss hat. Es ist wichtig, dass man es kann."

Dafür, sich dieses Können anzueignen und sich im Bereich Game Development ausbilden zu lassen, gibt es in Deutschland zurzeit ungefähr 50 bis 60 verschiedene Möglichkeiten: private und staatliche Bildungseinrichtungen, Hochschulen und Universitäten mit einer insgesamt breiten und qualitativ sehr unterschiedlichen Palette an Ausbildungsangebote im Bereich Games. Wobei Macher von Serious Games nicht nur eine klassische Game-Designer-Ausbildung mitbringen sollten, mahnt Torben Kohring. "Sie brauchen auch eine didaktische Zusatzqualifikation. Schon kleine Fehler können das Produkt für den pädagogischen Einsatz unbrauchbar, zumindest nur eingeschränkt nutzbar sein lassen. Beispielsweise didaktische Fehler wie fehlende Rückmeldungen und Korrekturen. Oder fachliche Fehler, d.h. fachliche Ungenauigkeiten , z.B. falsche Jahreszahlen in Geschichtsspielen. Für den Einsatz in Schulen ist daher ganz wichtig, Lehrer in die Spiele-Entwickler-Team einzubinden."

Für diejenigen, die von der Entwicklung von Games leben wollen, komme - neben den Know-how - mit Sicherheit noch ein weiterer Aspekt hinzu, so Malte Behrmann. "Egal, ob man mit Serious Games, also mit angewandten Spielen, eine Weile seinen Lebensunterhalt verdienen will, bis man als Spieleentwickler seine Chance bekommt, oder ob man dabei bleiben möchte: Man muss wissen, dass die Serious-Games-Industrie eine Industrie ist, die von Aufträgen lebt, die von staatlichen oder anderen Organisationen finanziert werden. So ähnlich wie der Autobahnbau. Um diese Aufträge muss man sich bewerben. Und anders als bei den nicht angewandten Spielen hat dieses Marktsegment deshalb seine eigene Dynamik. Nicht nur finanziell."

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